Sonntag, 21. März 2021

Gedanken zur pandemischen Gesellschaft, Teil 2

Unlängst hat mir ein Facebook-"Freund" im Zuge einer Diskussion ein Zitat von Helmut Schmidt gepostet: "In der Krise beweist sich der Charakter". Dabei war klar, dass ich bei dieser Charaktervermessung nicht besonders gut wegkomme. Aber ist das tatsächlich so, dass sich in der Krise der Charakter beweist? Ja, in Krisensituationen fallen wir wohl alle mehr oder weniger auf frühere Erlebens- und Verarbeitungsmechanismen zurück. Und ja, manche Menschen erleben in der aktuellen pandemischen Situation mehr Angst, mehr Wut, mehr Ohnmacht, mehr Neid und mehr Paranoia. Aber sind sie deshalb schlechtere Menschen? Ich denke nein. Eine Krise sollte nicht zur moralischen Hierarchiebildung benutzt werden.
 
Mancherorts taucht nun die Frage auf bzw. entwickelt sich eine Diskussion, ob es OK ist, seinen Impftermin bzw. die erfolgte Impfung freudig zu posten. Die hippe, intellektuelle Variante ist ja derzeit: 'Per aspera ad astra Zeneca'. Das kommt wohl, so zumindest mein Mutmaßung, von der Fernsehserie 'Star Trek'. Lustig finde ich nur, dass 'Per aspera ad astra' gleichzeitig auch der Wahl- bzw. Leitspruch zahlreicher Burschenschaften und Studentenverbindungen ist.
 
Gleich vorweg: Natürlich ist es OK, über die eigene Impfung zu posten, seiner Freude und Aufregung nach der ganzen Mühsal Ausdruck zu verleihen. Aber: Ich werde meine Impfung, wann immer ich sie erhalten werde, ganz bewusst nicht posten. Für einen Teil der Menschen ist es sehr zermürbend, immer wieder davon zu lesen, während man selbst oder die Eltern warten. Viele betagte Menschen sind noch nicht geimpft, ebenso viele Sozialarbeiter*innen, Psychotherapeut*innen, Physiotherapeut*innen etc. im nicht-stationären Bereich, obwohl sie viel persönlichen Kontakt zur vulnerablen Zielgruppe haben.
 
Vor allem: Dieses Geschehen der Vorreihung und Rückreihung beim Impfen kann tiefere Lebensthemen von Menschen berühren: Andere wurden bevorzugt, vorgezogen, mehr gehört, mehr gesehen, sind mehr wert. Diese Themen und Verletzlichkeiten haben an sich nichts mit dem Impfen zu tun, aber die zuvor vielleicht verborgenen Gefühle werden durch die momentane Impfdynamik aktualisiert.

Gedanken zur pandemischen Gesellschaft, Teil 3. Hat die COVID-Impfung in der Steiermark ein Geschlecht?

Hat die COVID-Impfung in der Steiermark ein Geschlecht? Die aktuellen Zahlen des Landes Steiermark zu den Impfungen im Bundesland differenzi...